ROBERT MENASSE


Ein nicht typischer Wiener Autor mit Sehnsucht nach Liebe und Gerechtigkeit
 
                                                                                                            Von Ida Labudović
 
 

Unlängst waren Sie in Spanien. Das ist das Land Ihrer Vorväter,  wie war es für Sie?
 
Ich kann und will nicht sagen, dass Spanien das Land meiner Vorväter ist. Erstens habe ich keine Ahnenforschung betrieben – ich meine, wenn schon zum Glück niemand einen Ahnenpass von mir fordert, warum soll ich mir selbst einen ausstellen? -, und zweitens ist es doch so: wenn meine Vorfahren väterlicherseits wirklich sephardische Juden gewesen sein sollten, die von der iberischen Halbinsel vertrieben worden waren, dann ist Spanien heute doch wohl eher das Land von Vorvätern, die Mörder und Fanatiker waren, die Vorväter der Franco-Faschisten und der unerklärlich stolzen, politisch und menschlich ahnungslosen Katholiken, die ein halbes Jahrhundert lang unfähig oder unwillens waren, effizienten Widerstand gegen den Faschismus zu leisten, bis Franco friedlich im Bett gestorben ist, und die danach noch unfähig waren, zur Republik zurückzukehren, die ihnen geraubt worden war. Nein, Spanien ist ein Land mit einem furchtbaren Erbe, mit dem die heutigen Nachfahren ihrer Vorväter bestürzend glücklich leben. Ich muss aber gestehen, dass ich diese Gedanken gar nicht hatte, als ich unlängst nach Spanien gereist bin, ich habe mich sehr gefreut auf Spanien, auf das große, bombastisch angekündigte Schriftstellerfestival in Segovia bei Madrid. Aber dann ist es mir sehr schnell richtig schlecht gegangen.
 
Warum?

Segovia ist eine sehr schöne mittelalterliche kleine Stadt. Sehr schön für die Augen. Aber dann merkt man, dass das Mittelalter nicht bloß Kulisse ist, Stadtbild, sondern immer noch ein Mentailitätsproblem. Auch wenn man das Mittelalter mit Handys und Laptops, mit Zara und Gucci ausstattet, ist es noch lange nicht überwunden, es ist dann halt Mittelalter mit Handys und Laptops. Wenn man drei Tage bei einem Festival verbringt, dann lernt man schon viel über Mentalität und Bewusstsein, Stimmung und Kultur von einer Gesellschaft und den Menschen. Die Organisatoren und Betreuer bei diesem Festival waren so achtlos und selbstverliebt, wie man es nur von radikal hyrarchischen Gesellschaften kennt: nicht der „Funktionär“ funktioniert, sondern der, für den er zuständig ist, soll irgendwie funktionieren.  Es war schauerlich. Wenn man aus Österreich kommt, kennt man ja diese Phänomene: dieses Wir-sind-Wir, die Ignoranz gegenüber der eigenen Geschichte, die Unfähigkeit, mit allem, was anders ist, also mit dem sogenannten „Fremden“ umzugehen, diese Mentalität, die immer wieder einen Hang zum Alttagsfaschismus verrät, das sitzt immer noch sehr fest untergründig in den Tiefen der gesellschaftlichen Mentalität – und auch wenn es natürlich sehr viele andere Menschen gibt, die aufgeklärt und intelligent, weltoffen und nett sind, es ist einfach eine Grundstimmung, die man spüren kann, das  muss ich hier in Österreich wohl nicht erklären. In Spanien ist das Ganze noch einmal verschärft, durch die vielen Jahrzehnte des Francofaschismus und des Bündnisses des Francofaschismus mit dem Katholizismus. Da funktioniert alles streng hyrarchisch und völlig ignorant gegenüber anderen Kulturen, deren literarischen Vertreter man eingeladen hat: Ganz oben ist Gott, darunter die politische Elite, um die herum die Hohepriester herrisch dienen, in diesem Fall die Hohepriester der Literatur, also die Funktionäre und Organisatoren. Am Ende der Hyrarchie die Autoren.   Jüdische Autoren, die ohne Rückfrage am Sabbat-Abend zu einer Lesung eingeteilt wurden, arabische Dichter, die zum Spanferkel-Essen eingeladen wurden, englische Autoren, die betreut werden sollten von Studenten, die nicht englisch konnten, nur zum Beispiel. Im sogenannten Organisationsbüro haben die Veranstalter sich selbst gefeiert, fühlten sich gestört, wenn man reinkam, die Autoren sind hilflos irgendwo herumgeirrt oder irgendwo herumgesessen.  Ich habe das beobachtet, es war extrem unangenehm. Der Höhepunkt beziehungsweise Tiefpunkt war ein Besuch bei Francos Grab, dem Mausoleum „Valle de los Caídos“ zwischen Segovia und Madrid. Franco bekommt noch heute täglich frische Blumen auf sein Grab gelegt. Jeden Tag wird eine Messe für ihn gelesen, hunderte Menschen stehen dort und bekreuzigen sich in einer Basilika, die vom Papst dafür geweiht wurde. Man fragt sich nicht in Spanien, was das bedeutet, täglich das Bündnis von Faschismus und Katholizismus zu bekräftigen. Das sagte ich einem spanischen Betreuer, wieso ist das möglich, wie darf das sein? Stellen Sie sich vor, dass es jeden Tag eine Messe und Feierstunde für Hitler in Deutschland gibt. Dann sagt er: „Na ja, Franco war was anderes, die Alternative zu Franco wäre Kommunismus gewesen.“ Sage ich, die Alternative zu Franco wäre nicht Kommunismus, sondern die Republik gewesen, eine demokratische Republik.  Er hat das nicht verstanden, für ihn war Franco ein Retter. Von solchen Leuten will ich nicht eingeladen werden, Man fühlt sich schmutzig, auch wenn man einigermaßen gut behandelt wird. Mein Roman „Die Vertreibung aus der Hölle“ ist von der Kritik ja gut aufgenommen worden in Spanien, darum haben sie mich eingeladen. Der neue Roman wird gerade übersetzt, ist bereits angekündigt, also gab es mir gegenüber schon einige Neugier. Aber ich habe das alles nicht ertragen und bin vorzeitig abgereist. Die spanische Mentalität liegt mir überhaupt nicht. Ich kann diesen unreflektierten Stolz, den sie auf ihren Leichenbergen lebend, haben, einfach nicht verstehen und nicht akzeptieren.
 
Wie war das mediale Echo auf Ihre Auftritte?
 
Ich habe zwei Interviewtermine gehabt, aber ich weiß nicht, ob und wann die Interviews erschienen sind. Das „Prague Writers Festival“, das eine vorbildliche internationale Literaturveranstaltung ist,  schickt allen Autoren danach eine Pressemappe mit dem Medienecho. Und die Autoren, die sich in Prag kennen lernen, bleiben danach zumindest sporadisch in Kontakt. Das war in Spanien überhaupt nicht so.
 
Eine Szene mit Chili in „Don Juan de la Mancha“ hat heftige Reaktionen in den Medien erregt. Leben wir eigentlich in einer scharfen Gesellschaft und warum ist sie scharf?
 
Scharf ist in der heutigen Gesellschaft eigentlich nur der Überlebenskampf, sowohl der der Konzerne als auch der jedes einzelnen. Ein brutaler Kampf, der mit aller Schärfe geführt wird. Aber in der gesellschaftlichen Selbstdarsatellung wird so getan, als wäre es die schiere Lust, zu leben und zu konsumieren. Die ökonomischen Zwänge werden hinter allgegenwärtigen erotischen und sexuellen Reizen versteckt. Als wären die Zerschlagung des Sozialstaats, das Zerreißen sozialer Netze, das Öffnen der Schere zwischen Arm und Reich, die Verteilungsungerechtigkeit einfach nur sexy. Und jeder, der sich da im Überlebenskampf abstrudelt, ohne dauernd seinen Orgasmus und seine Wollust-Erlebnisse zu haben, glaubt, dass nur mit ihm allein etwas nicht stimmt. Die Menschen werden dumpf und zugleich aggressiv und aufgereizt, sie werden scharf, ja, so wie Hunde, die scharf gemacht werden. Sie werden angetrieben, Konsumgüter anzuspringen. Man sagt immer, Konsum sei so wichtig, die Wirtschaft steht und fällt (auch so eine zweideutige Formulierung!) mit dem Konsum. Aber es geht gar nicht um Konsum, nur darum zu kaufen. Die Menschen sollen kaufen, sie sollen gar nichts konsumieren. Wenn die Menschen das, was Sie kaufen auch konsumieren würden, dann hätten sie ja keine Zeit, um schon das Nächstezu kaufen. Sie sollen wirklich nur kaufen. Und mit dem Gekauften bleiben sie verschuldet und unbefriedigt zurück und allein.
 
 
 
 
Sie haben gesagt: „Der Unterschied zwischen sensiblen, intelligenten Menschen und anderen ist, dass sie dieselben Defekte haben, aber dadurch Probleme“. Was bedeutet das?
 
Sensible Menschen denken über ihr Ungenügen und über das der Verhältnisse nach, stellen sich Fragen, deshalb leiden sie darunter: weil sie merken, dass alles so fragwürdig ist. Glück ist ja das genaue Gegenteil: wenn nichts fragwürdig, sondern alles ganz selbstverständlich ist. Wenn man zum Beispiel liebt, dann fragt man sich ja nicht, wieso liebe ich, muss ich lieben, wieso diesen Menschen, gibt es etwas anderes, was ist überhaupt Liebe, wie sollte sie sein? Sondern man liebt. Punkt. Das ist Glück. Wenn man fragt, ist es nicht Glück. Wenn man fragen muss, ist es Unglück. Idioten erkennt man daran, dass sie alles unhinterfragt tun, dass sie noch im größten Unglück so tun, als wäre das alles selbstverständlich, müsse so sein und sie schaffen und können das. Daraus beziehen sie sogar einen eigentümlichen Stolz, den dümmsten Ersatz für Zufriedenheit. Drum wirken sie auch immer so klischeehaft. Sie haben ein Bild davon, wie sie sein sollen und tun so, als entsprächen Sie diesem Bild und sie senden bis zur völligen Selbstaufgabe die entsprechenden Signale: Seht her, ich funktioniere! So lange das gut geht, haben sie kein Problem, sie sind nicht glücklich, aber sie haben auch kein Problem mit sich, nur diesen angestrengten Stolz. Aber der intelligente Mensch ist nicht zu allem bereit. Der intelligente Mensch fragt sich, ob er das wirklich tun soll. Sensible Menschen sind nachdenklicher, damit verletzbarer, sie leiden deshalb unter den Problemen, die andere einfach ausblenden.
 
Sie sind sehr beschäftigt, auch überall in den Medien präsent, wie passt dass zu Familie und was glauben sie überhaupt über die heutige Familie?
 
  Es gibt Berufe, die immer wieder zu Trennungen von der Familie führen, Vertreter, Matrosen oder Männer, die monatelang auf einer Bohrinsel arbeiten. Und der Schriftstellerberuf ist auch so einer. Im Grunde arbeite ich auf einer Bohrinsel.  Ich habe Vortragsreisen, oder ich muss  eine Zeit lang wo anderes leben, weil ich recherchiere. „Die Vertreibung aus der Hölle“ spielt teilweise in Amsterdam, teilweise in Lissabon und ich musste in beiden Städten eine Zeit lang leben, um dort in Archive zu gehen und die Stadt kennen zu lernen. So einen Roman kann man nicht zuhause in Wien schreiben, mit einem Reiseführer am Schreibtisch, und am Abend sitzt man mit der Familie beim Abendessen und erzählt, was man erlebt hat. Das Problem ist nicht die Trennung, sondern wie man damit umgeht, ob die Familie das akzeptiert und versteht oder nicht.  Ich habe die These, nein, die Erfahrung, dass Trennungen, kurzfristige Trennungen geradezu die Voraussetzung dafür sind, dass man mit jemandem gerne zusammen ist und bleibt. Zum Beispiel: Ich habe ein Haus am Land und wenn ich intensiv schreibe, ziehe ich mich in dieses Haus zurück, bin von Montag bis inklusive Donnerstag alleine. Am Freitag kommen meine Frau und meine Tochter und bleiben übers Wochenende. Ich habe Zeit, intensiv zu schreiben und am Freitag, wenn die Familiue kommt, freue ich mich, und ich koche was Gutes, wir reden sehr viel und erzählen,  und das finde ich schön. So hält unsere Ehe: Wenn wir uns sehen, freuen wir uns, unternehmen etwas mitsammen, und sind glücklich miteinander, und dann hat jeder wieder seinen Freiraum. Ich glaube, dass die Ehen heute, wenn sie überhaupt funktionieren, nur mit großen Freiräumen funktionieren können. Wenn man zu sehr aneinander klebt, führt das irgendwann zu großen Aggressionen, zum Gefühl, in einem verrostenden Käfig zu leben. In meiner Generation sind alle meine Freunde geschieden.
 
 
 
 
Sie sind mit zwei Identitäten aufgewachsen, auch auf zwei Kontinenten. Welche Erfahrungen haben sie gesammelt und welcher Charakter ist daraus  entstanden?
 
Wenn man auf einem anderen Kontinent kommt und nach vielen Jahren wieder nach Hause kommt, dann hat man eines gelernt, und zwar gleich doppelt: alles mit großer Distanz zu betrachten. Alles was ich bin oder denken kann oder erzählen kann, kann ich nur deshalb, weil ich gelernt habe, lernen musste, alles mit großer Distanz zu sehen, und heute gar nicht mehr anders kann. Man kann, zum Beispiel, wenn man ganz knapp vor einer Mauer steht, nicht einmal diese Mauer beschreiben. Man sieht von der Mauer ein Stück in der Größe einer Handfläche, aber nicht die Mauer. Man muss zurücktreten, bis man genug Distanz hat, um sie zu überblicken und dann erst kann man die Mauer beschreiben. Als ich nach Brasilien kam, war alles für mich sehr spannend, alles, was ich sah, war neu und anders und allein deshalb sehr faszinierend. Aber es war klar, wie gut auch immer ich hier alles kennen lerne, ich sehe es immer mit Abstand, anders als die Menschen, die hier aufgewachsen sind und alles als ganz selbstverständlich nehmen, ich sehe es auch dann noch, wenn es mir nach Jahren völlig vertraut wird, mit Distanz. Diese Distanz kann man nicht verlieren, auch wenn man sich möglichst gut einleben und assimilieren will. Und das wollte ich. Ich hätte in Sao Paulo Taxi fahren können, kannte diese riesige Stadt besser als die meisten Einheimischen, weil es mein Anspruch war, und trotzdem war nach acht Jahren klar, dass ich nie ein Brasilianer werde. Bildlich gesagt: Ich kann Samba tanzen lernen, aber ich werde nie so tanzen wie ein Brasilianer. Aber es ist möglich, mehr über die Geschichte des Samba zu lernen und zu wissen, als ein Brasilianer, der ganz selbstverständlich Samba tanzt. Und als ich dann nach acht Jahren nach Österreich zurückkam, war mir Österreich mittlerweile völlig fremd geworden, ich hatte so viel angenommen von der lateinamerikanischen Mentalität. Was für alle Wiener selbstverständlich ist, war mir nicht mehr selbstverständlich, ich hatte zu lange ganz anders gelebt, andere Erfahrungen gemacht. Und so habe ich gemerkt, dass ich jetzt hier dieselbe Distanz habe. Und das war gut. Plötzlich stand ich vor der österreichschen Mauer nicht so knapp, dass ich nur einen  Handfläche breit  sehe. Ich begriff, dass das ein enormes schriftstellerisches Kapital ist: die Distanz, die es einem erst ermöglicht, seine Welt zu überblicken und zu hinterfragen. Ich wollte das nie mehr verlieren und ich glaube, ich habe es nie mehr verloren.
 
Könnten Sie beschreiben und ein Bild von Wien geben, als sie jung waren?               
 
Als ich jung war, in den siebziger Jahren, war Wien schon optisch deutlich eine andere Stadt. Damals hat man mit der Revitalisierung der Stadt erst begonnen, die Stadt war noch irgendwie in einer ewigen Allerseelen-Stimmung und sehr arm an Möglichkeiten. Es setzte dann erst langsam ein, die Stadt schön zu machen.  Noch war die Stadt taubengrau, hundekotbraun und mausbeige. Und es gab ganz wenige Lokale, die länger geöffnet hatten, und wo soetwas wie eine Szene existierte. Typisch war zum Beispiel, dass ich als Student kein Telefonbüchlein hatte, ich hatte von niemandem die Telefonnummer aufgeschrieben, weil ich wusste, wenn ich am Abend in ein bestimmtes Lokal gehe, dass alle dort sitzen, die ich kenne und die mich interessieren.  Es hat erst in den achtziger Jahren begonnen mit den vielen Lokalen und dann hat man begonnen Telefonnummern aufzuschreiben oder sich zu verabreden. Es war eine Stadt, wo ein junger Mensch sich am falschen Ort gefühlt hat, es war eine Stadt, die für alte Menschen gemacht war. Das hatte alles mit dem Krieg und der daraus folgenden demografischen Entwicklung zu tun gehabt. Was in fünfziger Jahren in Wien das Stadtbild prägte, waren die älteren Männer, die nicht im Krieg waren, oder Überlebende, die älteren Frauen und die paar jüngeren, die nach dem Krieg auf die Welt gekommen sind. Die waren in den siebziger Jahren um die 20, aber die Minderheit, weil alle anderen steinalt waren und alles für die gemacht war. Erst als die Nachkriegsgeneration erwachsen und ökonomisch erfolgreich war, hat sich die Stadt aufgeputzt und ihr Angebot verbreitert. Ich war jung, als die Stadt alt war, und werde alt in einer jungen Stadt.
 
Was denken Sie über Migrationen und Städte, die multikonfessionell und multiethnisch sind?
 
Eine Stadt, die das nicht ist, die keine Anziehungskraft auf Menschen verschiedenster Welthaltungen, Kulturen, Konfessionen, Lebensvorstellungen hat, ist in Wirklichkeit keine Stadt. Eine Stadt ist ein Ort, der wie ein Magnet auf die Vielfalt des Lebens wirkt, also auf ein im breitesten Sinn gefasstes Umland. Eben deshalb war Wien zur Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert so ein spannender Ort, wo die europäische Moderne begonnen hat, in der Kunst, Architektur, Medizin, Literatur. Das war, weil Wien ein großer Magnet für Menschen aus Galizien, Serbien, Ungarn, Italien, aus allen Richtungen und Kulturen war.  Ich kann nicht verstehen, wie es möglich ist, dass die Erben dieser Stadt, die mit diesem Erbe Tourismuswerbung machen und von diesem Erbe leben, solche Aggressionen haben gegenüber jenen, die diese Stadt heute wieder als Stadt ernst nehmen, als Magnet, als Ort für Lebenschancen. Eine unfähige Politik, menschlich verottete Politiker betrügen Wien heute doppelt: sie betrügen die sogenannten Einheimischen, weil sie ihnen eine Stadt versprechen, die keine Stadt wäre, und sie betrügen die Zuwanderer, weil sie ihnen nicht die Stadt geben, wie es dem Bild entspricht, das sie von dieser Stadt in der Welt verbreitet haben.
 
Wie steht es mit dem Antisemitismus in Wien. Ist Antisemitismus noch latent vorhanden?
 
Den klassischen Antisemitismus gibt’s in Wien fast nicht mehr. Keiner würde heute laut und deutlich sagen „Die Juden sind unser Unglück“, „An allen Problemen sind die Juden schuld“, „Die Juden müssen ausgegrenzt oder gar vernichtet werden.“ Es gibt keinen soziologisch relevanten Anteil der Bevölkerung, der das sagen würde.  Es ist klar geworden, dass man sich damit selbst beschädigt und das will keiner.  Aber es gibt, meiner Meinung nach, zwei neue Formen des Antisemitismus. Die eine ist das, was ich den „selektiven Antisemitismus“ nenne. Der „selektive Antisemitismus“ richtet sich nur gegen Juden, die – wienerisch gesagt: - keine Ruhe geben. Dann ist es typisch der zersetzende Jude. Wenn zum Beispiel ein Katholik an irgendetwas Kritik übt, dann sagt man nicht: typisch Katholik, nichts ist ihm recht, er kann keine Ruhe geben, wir zahlen doch Kirchensteuer, warum hat er nie genug? – sondern da hat einfach einer Kritik geübt. Aber wenn es ein Jude ist, dann sagt man: typisch Jude, warum kann er nicht das Maul halten, warum bekommt er nie genug, was will er denn noch, kein Wunder, wenn es Aggressioinen gegen Juden gibt. Das sind Menschen, die haben jüdische Bekannte oder Geschäftskollegen, und sie nicken betulich bei den Sonntagsreden, wenn es heißt, das wir aus der Geschichte lernen müssen und sich das nicht mehr wiederholen darf und bla, und sie glauben ehrlich, dass sie keine Antisemiten sind, aber wenn einer auffällig wird, dann ist es nicht konkret dieser bestimmte Mensch, sondern ein Jude. Und typisch Jude. Das versteckt sich hinter Philosemitismus, und jeder hat viele Beweise dafür, dass er kein Antisemit ist. Diese Menschen würden nie sagen, dass Juden ausgegrenzt werden müssen, aber sie wollen, dass einzelne, ganz bestimmte ausgegrenzt werden, nur jene, die ihnen auffallen. Es ist also kein genereller, sondern eben ein selektiver Antisemitismus, der heute im gesellschaftlichen Diskurs spürbar ist. Und die andere Form des neuen Antisemitismus ist das, was ich den „Übertragungs-Antisemitismus“ nenne. Er richtet sich gegen Menschen, die gar keine Juden sind, auf die aber die Mechanismen des klassischen Antisemitismus angewandt werden. Die Technik, der zugrunde liegende Gefühlshaushalt ist aus der Geschichte des Antisemitismus bekannt, die Opfer aber sind nicht Juden, sondern andere Gruppen, zum Beispiel jetzt die Türken, oder Asylwerber, Menschen die vor Krieg flüchten. Die kommen hierher nicht aus Jux und Tollerei, aber sie werden als Schmarotzer, als Fremdkörper gesehen, und sie werden verfolgt und ausgegrenzt, nicht mit physischer Gewalt, aber mit gesellschaftlich atmosphärischer und bürokratischer Gewalt. Diese Spielchen kennen wir vom klassischen Antisemitismus. Man muss den Antisemitismus-Begriff heute eigentlich radikal ausweiten und klar sagen: Jeder, der mit den Mitteln und Methoden, die wir vom klassischen Antisemitismus kennen, verfolgt wird, ist Jude. Das möchte ich gerne sehen: ob sich dann die braven Österreicher gegenüber Zuwanderern immer noch trauen würden, sich so zu verhalten, wie sie es tun.  
 
Was ist ihre Meinung über die jüdische Gemeinde?
 
Ich habe keinen Kontakt zur Gemeinde, höchstens mit einzelnen Menschen, die sich darin engagieren. Ich bin ja kein Jude, weil ich keine jüdische Mutter habe. Ich bin nur ein Feuilleton- und Kulturjude.  Ich weiß also wenig vom Innenleben der Gemeinde, aber ich bin froh, dass es sie gibt und ich bin der Meinung, dass es ein Skandal ist, dass die Stadt in der sie einmal zerstört wurde - politisch und physisch zerstört wurde -, dass diese Stadt nicht historische Verantwortung übernimmt und sie besser unterstützt. 
 
Was sagen Sie über die heutige intellektuelle Szene von Wien?
 
Ich verrate Ihnen ein Gemeimnis: es gibt keine intellektuelle Szene in Wien. Es gibt nachdenkliche Menschen, und es gibt Menschen, die vor sich hin leben und alles so hinnehmen, wie es ist, und es gibt sehr viele Menschen, die sehr kämpfen müssen, aber dafür nicht unbedingt Intellektuelle brauchen oder sich für sie interessieren und sie für notwendig erachten. Für die sind Intellektuelle, oder wer so genannt wird, wahrscheinlich nur irgendwelche Klugscheißer. Aber das ist wohl überall so. Man darf Debatten im Feuilleton nicht mit der Realität und dem Geist einer Zeit verwechseln. Und am allerwenigsten darf man sich selbst und seine Künstler-Freunde mit einer Szene oder einem intellektuellen Brennpunkt verwechseln, oder das „Café Sperl“ mit einem „Café Zentral“ im klassischen Sinn. Wir sind Ex-Zentriker im wörtlichen Sinn, also ausserhalb des Zentrums der Realität und des allgemeinen Interesses.
 
Sie mögen den 6. Bezirk nicht nur wegen des Café „Sperl“, warum sonst noch?
 
Ich bin hier im 6. Bezirk aufgewachsen. Hier kenne ich alles. Das ist auch, durch den Naschmarkt und durch die Durchmischung, die hier stattfindet, der urbanste Teil von Wien. Aber ich habe keinen typischen Wiener Alttag. Ich lebe zum Teil in Amsterdam - das ist mein zweiter Wohnsitz -, und sehr viel in meinem Haus am Land. Wenn ich in Wien bin, dann empfinde ich das eher als Ausnahme zu meinem Alltag. Fast wie einen Urlaub. So gesehen bin ich kein Wiener, und wenn, dann bin ich ein Gumpendorfer.
 
Der Roman „Selige Zeiten, brüchige Welt“ thematisiert sehr stark Individualismus und Einsamkeit. Warum musste Judith, die weibliche Hauptfigur,  am Ende sterben?
 
Der Roman „Selige Zeiten, brüchige Welt“ thematisiert nicht die Einsamkeit, sondern den größten Anspruch: die Welt zu verstehen, seine Zeitgenossenschaft zu begreifen. Das führt, wenn man sehr konsequent ist, zu Einsamkeit. Das führt zu Selbstzerstörung. Man ist irgendwann nicht mehr kompatibel mit all jenen, die so leben, wie die Seidenraupe ihre Seide spinnt, oder wie die Bienen, die ihre Waben bauen. Dazu kommt der Geschlechterkampf. Judith wurde ermordet, von Leo, dem Mann an ihrer Seite, der ihr Werk als seines ausgeben, mit ihrer Arbeit seinen Profit machen wollte. Ich wollte von einem Leben erzählen, das konsequent und kompromisslos geführt wird, so sehr, dass es Selbstzerstörung und das eigene Verschwinden in Kauf nimmt. Und der Mord steht dafür, wie mit einem solchen Werk umgegangen wird: Menschen, die schwächer sind und kompromissbereiter, eignen es sich an. Der Einsatz ist groß, die Wirksamkeit dürftig, am Ende ist das Gequatsche. Ich habe selbst leider so eine selbstzerstörerische Ader. Manchmal denke ich mir, ich muss auf mich besser aufpassen, gesund leben, ich will gesund sein und lang leben, da werde ich ganz kleinbürgerlich, aber dann werde ich immer wieder zum Berserker gegen mich selbst, wenn es notwendig ist, um eine Grenze zu überschreiten, den Deckel über den menschlichen Abgründen zu lüften, zunächst den über meinen eigenen, und einen Gedanken zu fassen, der es wert ist, dass man gelebt hat. Judith ist eine autobiographische Figur, ich habe sie mit all meinen Eigenschaften ausgestattet. Leo, ihr männlicher Mit- und Gegenspieler, ist ein Typus, den ich beobachtet habe, mit dem ich immer wieder Erfahrungen mache, aber ich bin Judith, Judith ist ich.
 
Sie sind in interessanten Lebensjahren, haben schon viele Erfahrungen gehabt. Sie schreibe über Frauen, Erotik, wo finden Sie Inspiration und Herausforderungen im täglichen Leben?
 
Bei allem was ich schreibe, Romane, Essays oder Theaterstücke, versuche ich immer zu verstehen, wie Gesellschaft funktioniert in meiner Lebenszeit, das heißt, ich versuche mich in meiner Zeitgenossenschaft zu überprüfen. Wie funktioniert sozusagen meine Epoche und wie wandelt sie sich? Jede Epoche hat eine fixe Idee, darüber definiert sie sich. Wenn sich die fixe Idee ändert, hat man eine neue Epoche. Die fixe Idee einer Epoche ordnet alles Leben in einem bestimmten Muster, so wie ein Magnet die Feilspäne. Die Zeit unserer Großeltern war besessen von der Idee nationaler Identität und Größe. Da hatte alles, was Bedeutung hatte, seine Bedeutung im Kontext des Nationalen. Eine Epoche endet, wenn sich ihre fixe Idee als mörderisch oder lächerlich oder beides erwiesen hat. Man muss das nur erzählen, um es zu begreifen: Da war eine Zeit, in der ein Deutscher kein Butterbrot essen konnte, ohne sich zu denken: Deutsches Brot! Deutsche Butter! – Wie lächerlich das heute klingt! Zugleich wissen wir, wie mörderisch das wurde!  Die Elterngeneration hatte die fixe Idee nach Unschuld, nach unschuldigem Wohlstand! Ärmel aufkrempeln, Wohlstand aufbauen. Da konnte ein Mann nicht aufs Pissoir gehen, ohne energisch seine Ärmel aufzukrempeln! Wie lächerlich das heute klingt! Wenn etwas, das eine Zeit geprägt hat, lächerlich klingt, wissen wir: die Zeit ist vorbei, die Epoche ist zu Ende. Meine Generation hatte die fixe Idee, alles zu befreien. Befreiung war das allgemeine Zauberwort. Alles mußte befreit werden. Auch die Sexualität. Sexuelle Revolution! Durch die Enttabuisierung der Sexualität sollte ein Freiraum geschaffen werden, der die allgemeine Befreiung befördern konnte. Da konnten ein junger Mann und eine junge Frau nicht miteinander ins Bett gehen, ohne gleich die sexuelle Revolution zu machen. Sie haben sich nicht einfach geliebt, sie haben die Sexualität befreit. Wie lächerlich das heute klingt! Das zeigt, die Zeit ist vorbei. In meinem letzten Roman, wo es um Liebe und Sexualität geht, habe ich nicht versucht, einen neuen Liebesroman zu schreiben,  sondern darum: was ist da passiert und was ist daraus geworden, dass die Liebe und die Sexualität eine Zeit lang im Mittelpunkt des gesellschaftlichen Interesses standen wie nie zuvor in der Geschichte?  Das heißt, Sex hat mich nicht interessiert, Menschen haben seit Beginn der Menschheit Sex. Sondern, was das für eine Epoche war, in der der Anspruch von sexueller Befreiung die fixe Idee war. Die Menschen lieben jetzt anders als vorher, die Erwartungen sind andere, die Hoffnungen, die Vorstellungen wie es sein soll, sind andere, die Enttäuschungen sind größere und gleichzeitig hat diese Enttabuisierung dazu geführt, dass eben Sexualität oder sexuelle Reize plötzlich allgegenwärtig geworden sind. Was heute an Werbung, mit diesen sexuellen und erotischen Signalen möglich ist, war vor fünfzig Jahren undenkbar. Was macht das mit den Menschen, wie verändert das die Köpfe, wie verändert das das Sonnengeflecht, die Gefühle, wie verändert das die Geschlechtswerkzeuge? Dieses immer bereit stehen müssen, oder zu glauben, es zu müssen. Deswegen ist das kein Liebesroman, sondern ein kleiner Epochenroman. Diese fixe Idee von sexueller Befreiung existiert nicht mehr. Die fixe Idee heute ist Sicherheit, alles ist konzentriert auf Sicherheit, nicht mehr auf Freiheit. Die Menschen sind heute bereit, Freiheit zu Gunsten von Sicherheit aufzugeben, also haben wir eine neue Epoche. Die mit der fixen Idee der Befreiung ist zu Ende gegangen – und wenn eine Epoche zu Ende ist, kann man von ihr erzählen.
 
Sie provozieren sehr viel, besonders wenn sie es mit Autoritäten zu tun haben, Sie widersetzen sich dagegen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Sie verbittert sind und sehr für Gerechtigkeit sind. Woher kommt das und ist das wirklich ihr Temperament oder nur  ihr Image? 
 
Das ist keine Entscheidung die man trifft, aber ein bisschen schon auch. Meine Eltern haben sich scheiden lassen als ich ein Kind war und schon mit sechs Jahren bin ich ins Internat gekommen. Von meinem sechsten bis zum achtzehnten Lebensjahr bin ich in einer geschlossenen Anstalt gewesen, die noch dazu sehr autoritär war. Als ich raus gekommen bin, war ich ein vollkommen verschüchterter, ängstlicher junger Mensch. Und ich kam auf die Uni, und hinein in diese Freiheitsbewegung nach Achtundsechzig. Mich hat das fasziniert, dieses Rotzige, Aniautoritäre, mit dem Anspruch auf Selbstbestimmtheit.  Und ich habe mir gedacht, ja, so will ich sein, ich will nie wieder kuschen, mich ducken und buckeln, mich klein machen. In die Schule musste ich gehen, aber in die Universität konnte ich frei gehen. Ich habe diese Freiheit genossen, und die Chancen, die wir damals hatten: selbstbestimmt zu lernen. Die Universität in den 70er-Jahren war ein historisches Fenster, durch das wir die schönsten Aussichten hatten. Die Universität war nicht mehr autoritär und noch nicht verschult. Und sie war bewegt von der Idee der Chancengleichheit und sozialer Gerechtigkeit. Ich finde Ungerechtigkeit wirklich schwer zu ertragen und kann da wirklich wütend werden. Umgekehrt ist diese Wut ganz nahe an der Liebessehnsucht, im Grunde will man lieben und geliebt werden.   
 
Ist es so, dass im Leben nicht alles, wie so man sagt, „schwarz und weiß“ ist, oder ist es das doch?
 
Es ist doch eine Binsenweisheit, dass alles ineinander übergeht. Ich habe allerdings die Erfahrung gemacht, dass die Menschen, die immer sagen, „die Welt ist nicht bloß schwarz und weiß“, dass die immer so tun, als gebe es schwarz und weiß überhaupt nicht. Aber es gibt es, so wie es auch alles andere gibt. Manchmal passiert mit diesen Mischungen ein Wunder und es zeigt sich, dass die Mischung nicht war, was alle glaubten. Ich war unlängst in Dresden, wo es eine Brücke gibt, die das Blaue Wunder genannt wird. Diese Brücke über die Elbe, die Ende des 19. Jahrhunderts gebaut wurde, war damals eine große Sensation: eine der ersten dieser Spannweite, ohne Brückenpfeiler im Fluß. Ein Wunder der Ingeneurkunst. Diese Brücke wurde grün lackiert - und auf einmal wurde die Brücke blau. Seither ist das Wunder nicht mehr die technische Konstruktion - es gibt mittlerweile viel tollere Brücken in Europa -,  sondern dass sie sich verfärbt hat. Was ist passiert? Das Grün wurde aus einer Mischung von blauen und gelben Lack gemacht. Das Blau war qualitativ eine erstklassige Farbe, aber das Gelb war eine qualitativ minderwertige Farbe, die sich aufgelöst und zersetzt hat. So ist dann das Blau zum Vorschein gekommen. Das interessante ist, dass dies auch bei sozialen Prozessen passiert: Sie sind Mischungen -  dann vergeht die Zeit, und es ändert sich die Farbe, es kommt die Wahrheit zu Tage: man erkennt, was das Miese und Schlechte in der Mischung war.